Es ging mir jetzt lange Zeit psychisch gut. Sicherlich gab es Wochen, in denen ein paar Stunden oder Tage mit leichten Angstanflügen dabei waren… aber das ist ja total normal. Jetzt ist aber bald Jahrestag meiner Diagnosestellung. Das heißt, dass sich auch bald die große OP ihrem Jahrestag nähert. Und das bedeutet, dass ich wieder zu einigen Voruntersuchungen und letztlich stationär zur Panendoskopie muss. Das Tauziehen mit der Angst beginnt.
Fräulein Angst möchte Tauziehen
Der Sommer und vielleicht trotz Corona, der Sommerurlaub, stehen vor der Tür. Eigentlich mit die schönste Zeit im Jahr. Wenn da nicht Fräulein Angst wäre. Immer wieder kommt sie an und will gesehen werden. Will gehört werden. Will unendlich viel Aufmerksamkeit von mir haben. Was tun? Soll ich die Angst ausblenden? Oder besser annehmen? Ablenken davon? Mich mit ihr auseinandersetzen?
In meiner letzten Online-Sprechstunde habe ich mit meinem Psychoonkologen (Herr Dr. L.) genau darüber gesprochen. Ich habe ihn um ein neues Tool gebeten mit der Angst umzugehen. Sie besser annehmen zu können. Ich lese immer wieder bei befreundeten Bloggern oder Instagram-Accounts, die auch an Krebs erkrankt sind/waren, Beiträge wie „lerne die Angst anzunehmen“ oder „lasse die Angst nicht dein Leben bestimmen“. Die Angst an einem Rezidiv zu erkranken soll nicht die Überhand gewinnen. Aber wie mache ich das?
Wer gewinnt das Tauziehen? Die Angst oder Ich?
Der Tipp meines Therapeuten war der: Stellen sie sich mal vor, wir beide machen jetzt Tauziehen. Ich bin die Angst und sie sind einfach sie selbst. Was passiert?
Ich lebe von Bildern in meinem Kopf. Bei so einem „Auftrag“ fangen die Bilder in meinem Kopf sofort an zu laufen. Wisst Ihr was ich meine? Sagt man das so? Naja, jedenfalls sah ich mich sofort von der Angst über die Mittellinie gezogen.
Mein Psychoonkologe hakte nach, ob ich auch eine Chance sehe, wieder zurück auf meine Seite zu kommen. Ich kann das. Mit vielen guten Argumenten mir selbst gegenüber. Dann zähle ich mir die Sachen auf, die ich meiner Meinung nach sehr gut mache im Kampf gegen die Wiedererkrankung. Ich nenne Dir nur die Überpunkte. Wie z. B. gute Ernährung, viel Bewegung, Nachsorgeuntersuchungen, Zahnhygiene usw. In Wirklichkeit dauert die Aufzählung sehr lange. Ich halte mir selbst quasi Referate zu jedem dieser Überzeugungspunkte.

OK, sagte mein Therapeut. Ich finde es gut, dass sie überhaupt eine Möglichkeit sehen wieder auf ihre Seite der Mittellinie zu kommen. Aber diese ständige Aufzählung der Pluspunkte ist auch anstrengend, oder?
Ja, das ist es tatsächlich. Denn ich merke mittlerweile, dass ich versuche, mir immer mehr Wissen rund um diese Themen anzueignen. Was grundsätzlich natürlich nicht verkehrt ist – aber hilft es mir um gegen meine eigene Angst zu argumentieren? Ist es nicht vielmehr so, dass Fräulein Angst nur einmal eine Grimasse schneiden muss und schon sind all meine Argumente, Pluspunkte und Wissen total egal? Fräulein Angst wiegt mal eben ne Tonne und gewinnt immer in der Waagschale.
Mein Psychoonkologe meinte dann, dass kann er total gut verstehen. Aber, was würde passieren, wenn sie (also ich) das Seil einfach los lassen?
Prallt Fräulein Angst auf ihren Hintern und kommt nicht mehr hoch?
Chakka! Tja, Herr Dr. L. dann landen sie auf ihrem Hintern. Bildhafte Vorstellung…. Wir mussten sehr lachen. Und ich dachte in dem Augenblick, dass war ja einfach. Nö, war es aber nicht. Denn Hr. Dr. L. konterte mit dem Hinweis, dass er mit Sicherheit rückwärts stolpert, aber nicht hinfällt und nie wieder aufsteht. Er ist in dem „Spiel“ schließlich die Angst. Er rappelt sich auf, kommt wieder voll auf die Beine und wird immer mit seinem Ende des Seils um mich herum laufen. Er bzw. Fräulein Angst wird wieder und wieder ankommen und mich fragen, ob ich das Seil nicht doch wieder in die Hand nehmen möchte. Vielleicht eine neue Runde Tauziehen?
So einfach war es dann eben doch nicht. Trotzdem konnte ich diesem Bild in meinem Kopf, wie Fräulein Angst mit dem Seilende in der Hand um mich rum läuft und ich das Seil einfach nicht aufnehme, etwas kraftvolles abgewinnen. Es ist meine Entscheidung ob ich mich auf ein neuerliches Tauziehen einlasse. Dieses Tool erfordert glaube ich, dennoch sehr viel Übung. Der erste Eindruck ist gut. Ich wurde diesmal von meinem Therapeuten durch das „Tauziehen mit der Angst“ geführt. Ob ich das alleine so gut schaffe wird die Zukunft zeigen.